Lass dich von Gott unterbrechen!

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Da geht ein Priester von Jerusalem hinunter nach Jericho. Wahrscheinlich hatte er Tempeldienst. Nun ist sein Dienst beendet, und er freut sich auf sein Zuhause in der schattigen Oasenstadt Jericho. Es ist heiß, die Sonne glüht. Er muss die Steinwüste durchqueren, 27 km über Stock und Stein. Zudem ist es unwegsam, es geht stets bergab. Da sieht er einen Mann auf der Erde liegen. Es wird schnell deutlich, dass dieser Mann von Räubern überfallen worden ist. Er blutet aus seinen Wunden. Wahrscheinlich ist er tot. Der Priester geht schnell weiter. Kurze Zeit später kommt ein Levit an dieser Stelle vorbei, auch er sieht den Überfallenen und geht schnell weiter.

Wir kennen diese Geschichte. Jesus hatte dieses Gleichnis erzählt (Lk 10,25-37). Die gute Person ist der Samariter, der später vorbeikommt und hilft. Über ihn und seine Barmherzigkeit könnte man viel sagen, doch folgen wir für einen Moment dem Priester und dem Leviten nach Jericho. Was werden sie von ihrer Reise erzählt haben? Ich stelle mir Folgendes vor:

Der Priester kommt zu seiner Familie und begrüßt freudig Frau und Kinder. Er ist froh, dass er nicht ausgeraubt und von den Räubern totgeschlagen wurde. Später beim gemeinsamen Essen erzählt er von dem Überfallenen. Er wird deutlich machen, dass der Überfallene wahrscheinlich schon tot war. Zudem habe er als Priester ohnehin nichts machen können, da er ja mit Blut und vor allem mit Toten nicht in Berührung kommen durfte. Als Priester kenne er das Gesetz Gottes. Die dortigen Anweisungen seien heilig (Lev 21,1: „Ein Priester soll sich an keinem Toten seines Volkes unrein machen“).

Auch der Levit kommt nach Hause und erzählt von dem Überfallenen. Der älteste Sohn fragt neugierig, ob der Überfallene wirklich schon tot gewesen sei. So ganz genau wisse er das nicht und wolle es auch gar nicht wissen, da er mit Toten nichts zu tun haben dürfe.

Beide haben irgendwie recht. Sie haben die Tora und damit das Wort Gottes auf ihrer Seite. Immerhin sind sie die heiligen Priester und Tempeldiener, die sich nicht verunreinigen lassen durften. Hätten sie sich um den Überfallenen gekümmert, dann hätten sie sich einer längeren Reinigungszeit unterziehen müssen. Mal ehrlich, wirklich helfen hätten sie ohnehin nicht können.

In unserer gemeinsamen Andachtszeit an der AWM habe ich diese Geschichte nacherzählt und theatermäßig nachgestellt. Irgendwie waren wir alle betroffen über die Ignoranz des Priesters und des Leviten. Sie haben den Überfallenen einfach seinem Schicksal überlassen. Ohne zu schauen, ob und wie sie vielleicht hätten helfen können, gingen sie zielstrebig und mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt vorbei. Vor lauter Gesetzestreue hatten sie die klare Anweisung „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ übergangen (Lev 9,18). Lass dich von Gott unterbrechen, auch dann, wenn es dir nicht passt.

Elmar Spohn

(D.Th., University of South Africa) war acht Jahre Missionar in Tansania und ist seit 2013 Dozent für interkulturelle Studien bei CIU Korntal.

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Bildnachweis: Matt Collamer / unsplash.com

01.02.2023